„Wenn man so etwas erlebt, dann weiß man: Hier bin ich richtig.“ Angelika de Roos ist „Türöffnerin“. Als Heilpädagogin in der Frühförderung begibt sie sich für ihre in der Entwicklung beeinträchtigten Schützlinge auf die Suche nach den Schlüsseln für die Schubladen, in denen sich die einzelnen Fähigkeiten befinden und die die Kinder alleine nicht öffnen können. „Meine Aufgabe ist es, den richtigen Schlüssel zu finden, um den Kindern den Weg zu zeigen, damit sie sich eigenständig entwickeln können“, schildert die Leiterin der Heilpädagogischen Ambulanz (HPA) in Rietberg ihre Passion.
Einen eindrücklichen Schlüsselmoment in ihrer 20-jährigen Berufserfahrung als Heilpädagogin erlebte sie mit einem Kind mit selektivem Mutismus: Körperlich in der Lage zu sprechen, aber außerhalb des engsten Familienkreises so gehemmt, dass es selbst mit den Großeltern nicht sprach. „Das Kind hat bei uns ein Dreivierteljahr kein Wort gesprochen“, erinnert sich Angelika de Roos. Bis zu dem Tag, als es in das Bällebad sprang. „Ich habe spaßeshalber einen der Füße gefasst und gesagt: ‚Ui, ich habe einen Fuß gefunden‘. Da ist der Bann gebrochen und das Kind hat herzhaft angefangen zu lachen. Das war das erste Mal, dass wir die Stimme gehört haben. Das war der Hammer“, schwärmt die Heilpädagogin von den Augenblicken, die ihre Arbeit so erfüllend werden lassen. „Das ist so schön, so etwas zu erleben“, freut sich de Roos über die Fortschritte ihres ehemaligen Schützlings, der inzwischen das Gymnasium besucht.
Was hindert das Kind, richtig an der Welt teilzunehmen?
Es war das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, das in der gelernten Erzieherin einst den Wunsch reifen ließ, mehr über die Entwicklung von Kindern zu erfahren und ein besseres Handwerkszeug an die Hand zu bekommen, um mit Auffälligkeiten in der Entwicklung von Kindern umzugehen. Sie sattelte zur Heilpädagogin auf, weil sie im Kitaalltag an ihre Grenzen stieß – im Umgang mit unruhigen Kindern, die sie nicht beschäftigt bekam, je lauter es in der Gruppe wurde. „In der Weiterqualifizierung hat sich vieles erschlossen.“ So hat sie nicht nur eine Menge über die Ursachen von Krankheiten erfahren, sondern auch gelernt, die Kinder ganzheitlich zu betrachten – inklusive Umfeld rund um Familie und Kindergarten. Kommen Kinder auf Empfehlung der Kinderärzt*innen oder Mitarbeiter*innen der Kitas in die HPA, ist nicht nur ein umfangreicher Entwicklungstest wichtig für die Diagnostik, sondern auch Familienanamnese und Elterngespräche sind zentrale Elemente. Die Kernfrage des HPA-Teams: Was hindert das Kind, richtig an der Welt teilzunehmen?
Ein Kind, das sich nicht traut eine schräge Ebene zu erklimmen. Woher kommt die Angst? Die Ursache könnte in der Schwangerschaft begründet sein. Musste die Mutter viel liegen, kann das Auswirkungen auf das Gleichgewichtsgefühl des Nachwuchses haben, hat Angelika de Roos in ihrer Heilpädagogik-Weiterbildung erfahren. Durch die mangelnde Bewegung erhält auch das Baby keine Impulse, sich zu bewegen. Schlecht ausgebildete Gleichgewichtsorgane sind die Folge. Wie geht die Familie damit um? Gehen sie mit dem Kind auf den Spielplatz? Die Diagnostik ist vielschichtig.
Und nicht zuletzt wegen der Vielfältigkeit der Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindern erwartet die Heilpädagog*innen in der HPA ein facettenreicher Arbeitsalltag: Von Kindern mit Downsyndrom, geistigen Behinderungen oder Autismus über Frühchen bis hin zu Kindern, die Auffälligkeiten im sozial-emotionalen Bereich zeigen – das Spektrum in der Frühförderung ist breit gefächert.
Was kann ich tun, um all den Kindern zu helfen? „Möglichkeiten schaffen, damit sich das Kind selbst entscheiden kann, den nächsten Schritt zu wagen“, sagt die HPA-Leiterin, der das Erfolgserlebnis eines bewegungsängstlichen Kindes besonders zu Herzen ging. „Es hat sich nie getraut, den sicheren Boden zu verlassen“, erinnert sich Angelika de Roos. Trampolin, Bällebad, wackelnde Matte – alles undenkbar. „Ich habe jedes Mal Dinge aufgebaut. Die standen da, als wären sie von einer vorherigen Förderstunde stehen geblieben“, verrät die Heilpädagogin ihre Taktik. Steter Tropfen höhlt den Stein: Eines Tages kam die Frage: „Darf ich mal auf die schräge Matte?“. Danach traute sich das Kind jedes Mal ein bisschen mehr. Bis es schließlich kopfüber an der schrägen Ebene hing. „Es war vorher unvorstellbar, dass das Kind das schafft“, ist de Roos begeistert.
„Wir richten den Blick nicht auf die Fehler, sondern die Ressourcen“
Der Schlüssel zum Erfolg ist, eine gute Bindung zu den Kindern aufzubauen, damit sie erfahren: Hier passiert mir nichts. Es ist okay, wie ich bin. „Wir richten den Blick nicht auf die Fehler, sondern auf die Ressourcen“, berichtet Angelika de Roos. „Was kann das Kind gut? Darauf bauen wir auf.“ Eines der schönsten Komplimente daher, als ein Junge nach einer Förderstunde sagte: „Es hat Spaß gemacht, aber gelernt habe ich nichts.“ Und genau so soll es sein. „Kinder sollen kein Störungsbewusstsein entwickeln, sondern ihr Selbstwertgefühl soll gestärkt werden.“ Und gelernt hat der Junge, ohne es zu merken, ganz viel: Rücksicht zu nehmen, abzuwarten, die Frustrationstoleranz zu steigern. „Die Arbeit mit den Kindern ist erfüllend. Kinder sind ehrlich und spiegeln ihre Freude sofort, wenn sie etwas geschafft haben“, schwärmt Angelika de Roos von ihrer Arbeit als Heilpädagogin, die auch ihren persönlichen Horizont erweitert hat. „Ich habe mich menschlich weiterentwickelt.“ Der Beruf hat ihr die Tür geöffnet, Menschen so anzunehmen, wie sie sind, und sie ganzheitlich zu sehen.
Und tolle Erfahrungen kann man nicht nur in der Frühförderung machen. „Das ist nur ein mögliches Handlungsfeld für Heilpädagog*innen“, sagt Angelika de Roos. „Man kann mit allen Altersstufen arbeiten.“
Wo sind Heilpädagog*innen noch gefragt?
Welche Berufs- und Einsatzfelder sich Heilpädagog*innen in Deutschland eröffnen, hat der Berufs- und Fachverband Heilpädagogik (BHP) in seinen sieben Positionspapieren vorgestellt, die über die Website heruntergeladen werden können. Hier bekommen Interessierte komprimierte Infos zu den Grundlagen, Methoden und Zielen des heilpädagogischen Handelns in den Feldern Schuldienst, der Arbeit mit alten Menschen, der Arbeit in Kindertagesstätten, der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe, der Frühförderung sowie der Arbeit in psychiatrischen Handlungsfeldern.
Das Theresia Gerhardinger Berufskolleg – Warburg (TGB) startet eine Zusatzqualifizierung zum Heilpädagogen/zur Heilpädagogin.
Auf seinem Youtube-Kanal stellt das TGB den Bildungsgang und seine Vorzüge vor. Hier geht’s zum Video.